Mittwoch, 2. Dezember 2015

The Times, They Are A-Changin' - Kulturprozesse und Prozedurales Kulturverständnis

Wenn man, wie es Arbeitgeber beizeiten verlangen, irgendwann eine Mitarbeiterschulung in einem internationalen Umfeld besucht, wird das Thema früher oder später unweigerlich auf die interkulturelle Kommunikation gelenkt werden. Das ist lustig und lehrreich, bringt es uns doch bei, dass man sich nicht in allen Kulturen beim Sprechen in die Augen sieht, dass nicht überall auf der Welt die berühmte, deutsche Spracheffizienz geschätzt und teilweise gar als Unhöflichkeit missverstanden wird und dass in Asien und Arabien indirekte high context-Kommunikation vorherrscht.

Interessant kann aber auch eine Beschäftigung mit der eigenen Kultur sein. Denn nicht nur die Transferleistung der eigenen in eine andere Kultur mag schwer fallen, auch der Umgang mit dem mythologischen Grundgerüst der eigenen kulturellen Umgebung ist beizeiten nur noch schwer zu fassen, wenn die Handlung aus ihrem Kontext entfernt wird. Der erste Punkt ist relativ leicht zu verstehen und am besten mit einem kurzen Beispiel erklärt:

Der missionarische Eifer des Christentums der sich, seit dem 15. Jahrhundert an der Neuen Welt und Afrika abreagiert hatte, machte natürlich auch vor den Inuit im Norden Kanadas nicht Halt. Hier hatte man nun allerdings große Probleme, einem Volk, dessen Kulturkreis grob deckungsgleich mit dem Polarkreis ist, etwas über Wüstenbewohner und deren Gebräuche zu erzählen, so dass die Allegorien und hochkontextualisierten Erzählungen des Neuen Testamentes ihre Wirkung häufig verfehlten. Besonders konnte man Jesus nicht mehr als Agnus Dei, als Lamm Gottes bezeichnen - die Inuit kannten lange Zeit keine Lämmer und als solches fehlte ihnen der kulturelle Bezug zum Opferlamm, was es ihnen unmöglich machte, diesen zentralen Begriff der christlichen Heilslehre zu verstehen. Schlau wie die Missionare waren, suchten sie nach einem neuen Begriff und fanden eine ähnliche kulturelle Bedeutung im Seehundbaby. Somit predigten die Missionare nun also den Inuit von den Wundertaten des "Seehundbaby Gottes".

Ähnliche Übertragungsprobleme ergeben sich aber auch, wenn wir uns beispielsweise die Bibel heute ansehen. Unsere Wahrnehmung und das, was wir über die Bibel zu wissen meinen, geht häufig weit mit dem auseinander, was abgebildet wird. So wird beispielsweise an keiner Stelle in der Bibel ausdrücklich erwähnt, was für eine Frucht eigentlich am Baum der Erkenntnis wächst. Darauf angesprochen würden vermutlich die meisten Menschen heutzutage ohne groß nachzudenken sagen, dass es sich hier um einen Apfel handelt. Dieser taucht allerdings erst seit dem Spätmittelalter in der christlichen Ikonographie hierzu auf und beruht unter Umständen auf einem Übersetzungsfehler, einem Wortspiel oder einer bloßen Interpretation des Wortes malus, was soviel heißt wie "böse" als malum, was soviel heißt wie "Apfel". Die Bücher des Alten Testamentes legen übrigens nahe, es hätte sich bei dem Baum um einen Feigenbaum gehalten - woher sollten Eva und Adam auch sonst die strategisch platzierten Feigenblätter haben? Frühe jüdische Darstellungen der Apokalypse hingegen sprechen von einer Weintraube.

Diese Probleme enden aber nicht im Alten Testament. Erinnern wir uns an die Kreuzigungsgeschichte, so erinnern wir uns vielleicht auch an die Legionäre, die Jesus Essig zu trinken gaben. Geht ja schon mal gar nicht. Essig. Ist ja fies. Ganz abgesehen davon, dass Himbeeressig teilweise als Aperitif gereicht wird, war das echt nett von den Legionären, mit Jesus ihr Posca zu teilen. Dem Sohn eines Gottes, an den man nicht glaubt, Posca, ein Essigwasser, das bei der ärmeren Bevölkerung und Legionären als Getränk beliebt und weit verbreitet war, hat wenig mit einer Schmähung zu tun, sondern tatsächlich etwas damit, dass die Legionäre dem Gekreuzigten helfen und seine Leiden lindern wollten. Ein Umstand, der in der Zeit, in der die Evangelien niedergeschrieben wurden, aus dem Kontext heraus verstanden werden konnte. Damit, dass die Zeit voranschritt, das Römische Reich und mit ihm seine Kultur untergingen, wurde der Konsum von Essigwasser aus dem Gedächtnis und dem Handlungsverständnis der Menschen gestrichen. Was blieb war die Stelle im Neuen Testament, in dem von Essig die Rede ist. Das wurde, in der Wirkungsgeschichte dieser Stelle durch neuerliche Auslegung über die Jahrhunderte hinweg, zu einer bösartigen Tat, um Jesus weitere Leiden zuzuführen.

Auch dass Judas Ischariot seinen Freund und religiösen Führer Jesus für 30 Silberlinge verkaufte, werden die meisten heute noch unfallfrei von sich geben können. Allein der heutige Wert dieser Geldstücke ist nicht wirklich greifbar. Kein Wunder, denn die Zahlen gehen auseinander. Was jedenfalls nicht möglich ist, ist eine Gleichsetzung von Silberlingen mit heutigen Münzen, wie beispielsweise 2-Euro-Stücken. Trotzdem ist es unsere erste Assoziation - ein Silberling ist eine silberne Münze, eine 2-Euro-Münze ist silbern, Judas hat Jesus ungefähr für den Preis eines Wocheneinkaufs für eine Person an die Behörden verraten. Das ist zunächst nicht cool, weil man mit Zinkern und 31ern nicht hängt und hat für Gläubige den üblen Nachgeschmack, dass man gerade für relativ wenig Geld den Sohn Gottes nicht über den Jordan, aber zumindest auf Golgatha geschickt hat. Tatsächlich handelt es sich bei den Silberlingen wohl um Tyros-Schekel, die in dieser Zeit im Mittelmeerraum weit verbreitet waren, zur Entrichtung der Tempelsteuer an die römischen Behörden verwendet wurden und deren Kaufkraft heute bei (sehr grob geschätzt) 10.000 bis 15.000 Euro liegt. Das ist nun immer noch nicht die Welt, wenn man bedenkt, dass man eine Person hiermit in den sicheren Tod schickt, Judas wird aber nun auch wirklich nicht als Sympathieträger aufgebaut und von daher geht das wohl schon in Ordnung.

All die oben angesprochenen Punkte geben Auskunft über ein wichtiges Element von Kultur, Verständnis und, vor allem, Kulturverständnis. Jede kulturelle Handlung kann nur innerhalb ihres jeweiligen Handlungskontextes korrekt verstanden werden. Das heißt natürlich nicht, dass man diese Handlung akzeptieren muss. Wenn Inuit beispielsweise Seehundbabys nicht nur mit dem Lamm Gottes gleichsetzen, sondern jagen, töten und konsumieren, dann verstehen wir das unter Umständen schon, finden es aber erstmal nicht in Ordnung. Weil, ernsthaft - Seehundbabys. Verdammt niedliche Tiere. Gleiches gilt für Handlungen aller Kulturen, auch von Kulturen, die im gleichen Verbreitungsgebiet der unseren vorangehen. Es ist leicht so zu tun, als gäbe es Kultur als etwas monolithisches, das nach bestimmten Weltregionen sortiert verstanden werden kann. Das Gegenteil ist der Fall. Kultur bezeichnet in erster Linie die gemeinsamen Handlungsweisen. Einstellungen und Zielsetzungen einer bestimmten Gruppe von Menschen. Deswegen hat Google eine eigene Firmenkultur. Deswegen haben Kneipen in Deutschland eine eigene Kultur und deswegen ist Kultur nichts, was man abschließen, mit nach Hause nehmen oder sich an die Wand hängen kann. Kultur ist etwas prozedurales, das ständig neu verhandelt wird und ständig neu verstanden werden muss. Wo das ausbleibt, verliert man die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Umfeldes und, schlussendlich auch des Selbst, da die Kultur, die einen umgibt, plötzlich fremd erscheint. Dabei ist es immer noch die gleiche wie vorher. Sie hat sich nur ein wenig verändert. Essigwasser ist zu Essig, eine Frucht zu einem Apfel und ein Lamm zu einem Seehundbaby geworden. Und da gibt es doch wirklich schlimmere Dinge.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen